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AutorenbildBarbara Mai - Mainretreat

Easy!

..oder eine Kurzgeschichte aus den ersten fünf Tagen Mutter-Kind-Kur


Ich sitze an der Ostsee in oder auf Zingst. Mein 8-jähriger Sohn, der gerade aus LEGO ein futuristisches  Elektro-Rennauto baut, ist auch am Start, während ich hier sitze und versuche, Worte zu finden für diese spannenden ersten Tage unserer Auszeit. Die erste Woche des Jahres haben wir noch zuhause als Urlaub verbracht, in großer eifriger Planung, Vorbereitung und in Vorfreude auf all die Vorhaben, die wir uns für diese Zeit vorgenommen hatten. Also ich. Keine Arbeit, keine Versorgungsmühen, keine Fürsorgen, Keine Deadlines, keine Rechnungen, keine Alltags-Sorgen, kein Einkauf, kein nichts. Easy.



Die Auszeit auf Kur. Dieses wunderbare, verheißungsvolle Konzept, das ich monatelang herbeigesehnt habe. Endlich Zeit, zu detoxen, sich zu entfalten, sich zu strecken, Klarheit zu finden und Ziele des Lebens ein wenig neu zu ordnen. Doch was ich nicht eingeplant hatte: dass die Kurleitung, die Küche, mein Kopf und mein Körper offensichtlich einen sehr eigenen Plan haben. Denn nach dem ganzen tagelangen Vorbereitungschaos der Reise, saß ich völlig übermüdet über meinem Koffer und vor meinem Sohn und fragte mich überraschend schnell: „Was mache ich hier eigentlich schonwieder?“ und „Was habe ich mir jetzt wieder für uns ausgedacht?“. Meine Gedanken kreisten wie das sogenannte Karussell um zurückgebliebene Haustiere, um meine Projekte und Jobs, um Steuererklärungen, um Papiere, um meine Garage, die droht mit Wasser zu überlaufen, sobald es schüttet, um Portale, die gesteuert werden, Webseiten, und und. Das Smartphone in der Hand, die Kommunikation auf das Geringste schrauben wollend, wurde weiter gesteuert, es wurde organisiert, Kontakt aufgenommen, bestellt, Reisen wurden gebucht und nicht vorhandene Geldanlagen abgecheckt. Der Mann mit dem Hammer am Hinterkopf hämmert: Du muss weitermachen, am Ball bleiben. Du darfst nicht aufhören. Du darfst nicht stillstehen. Stillstand ist der Tod (sagt Herbert ja auch).


Am ersten Morgen schon kamen die vielen Antworten auf die eigentlichen Vorhaben. Mein Erstes: Digital Detox. Die ständige Erreichbarkeit unterbrechen. Reiz und Reaktion durchbrechen. Das vorrauseilende Planen- und Organisieren-müssen stoppen. Dachte ich. Nun möchten die Betreuer, dass ich im Grunde ständig erreichbar bin, es gäbe nur einen Zimmerschlüssel, und von wegen Notfall und überhaupt, wir leben im Zeitalter von.. Als lebe ich hinter dem Mond, als ich meine Bitte nach Analogem Planen äusserte. Mein Wochenprogramm kann ständig über die entsprechende App geändert und angepasst werden, daher muss ich ihn beobachten, am Ball soll ich bleiben. Und überhaupt muss das Essen täglich ausgewählt werden und die heiss begehrten Zusatzoptionen gebucht werden. Am Ball bleiben also. Gut, denke ich und an meinen Vetter Ali, der sagt: „Du lässt ja auch den Fernseher nicht komplett aus, nur weil du kein Pro7 glotzen willst.“. Also lasse ich das Gerät an, aber schalte „Pro7“ ab. Schiebe Apps in die unsichtbare Bibliothek. Easy.


Mein zweites Vorhaben hieß: No-Carbs. Der Küchenchef macht diesmal keine Extra-Wurst: Morgens frische Brötchen, Brot und Cornflakes, mittags Nudel-, Kartoffel- und Reisgerichte, abends Brotzeit zünftig. Ne, Leute. So funktioniert das nicht. Ich ergebe mich auch im zweiten Vorhaben. Ich beschließe, dass es reicht, dass es hier keinen Wein zum Abendbrot gibt. Das muss genug No-Carb sein. Das dritte Vorhaben, Sport zu treiben, klingt vielversprechend.


Drei kleine Vorhaben, gar nicht schlimm, wie ich finde. Kein Life-changing, ice-braking, turning point of my life und all of this. Eigentlich voll easy?!


Der Klinikdirektor hält mir bereits am ersten Tag allerdings vor, dass alle drei Vorhaben viel zu riesig sind, ja völlig übertrieben. Ich solle in kleinen Schritten und so, das kenne ich doch als Coach. Ich müsse mir keinen Kopf um das alles machen. Und Handy hin oder her: entspannen Sie sich einfach. So einfach also, sagt er, und: „Ich trage Sie mal ein bei: Melisse-Bad“. Ich hasse es, gezwungen zu werden zu baden.


Ein Vorhaben ist kein Vorhaben, denke ich halb motiviert. Wir machen also etwas anderes. Müssen uns etwas anderes ausdenken. Etwas ganz Anderes offenbar, denn mein Körper hat mich schon an diesem zweiten Tag komplett lahmgelegt. Nach dann zwei weiteren Tagen wollte ich durchstarten, wenigstens mit den Low-Level-Easy-Vorhaben. Ergebnis: zwei Tage habe ich jetzt durchgeschlafen, Gedankenkarussell versucht abzuschalten und platt auf der Gummimatratze herumgelegen und geschwitzt (wer denkt sich solche Matratzen aus?). Klassische Reaktion auf plötzliche Entspannung, sagen die Experten. Ich sage: Wer hat bitte die Zeit dazu, sich wie eine Gummimatratze in der Ecke zu verhalten, wenn man seine Leben kurz mal detoxen und aufräumen will?


"Leisure Sickness", ein bekanntes Phänomen, passt gerade total zu mir. Leisure Sickness ist genau mein Ding. Der niederländische Psychologe Ad Vingerhoets fand heraus, dass viele Menschen genau dann krank oder schlichtweg sehr sehr müde werden, wenn sie zur Ruhe kommen. Der Körper, monatelang auf „Funktionieren und Alarm“ gepolt, fährt die Abwehr herunter. Und siehe da: Die gnadenlose Erschöpfung holt einen ein. Ich komme kaum die Treppen hoch.


Aber der erste Schritt zur Besserung sei: Akzeptieren. Der US-Psychologe Jon Kabat-Zinn sagt: "You can’t stop the waves, but you can learn to surf." Also gut. Dann surfen wir eben auf dieser Welle aus zerplatzten Vorhaben mit einer Gummimatratze und versuchen, liegen zu lernen. Auf Melisse den Kopf auszuschalten.


Am fünften Tag musste ich dann aber einmal aufstehen. Es ist nämlich  Wochenende und da ist hier noch mehr von diesem Nichts. Also machen wir etwas aus dem Nichts. Hierbleiben ist keine Option: 400 belegte Betten, es hat durchaus Jugendherbergscharakter, nur dass die Mütter zu großen Teilen eben "ein bißchen krank" oder völlig drüber (glücklich) durch die Gegend schaukeln und ihre Kinder anschreien, dass es gleich klatscht, aber keinen Beifall! Nachtruhe ist ab 20:00 Uhr – viel zu spät, wenn man mich fragt.


Vielleicht ist das der wahre Sinn einer solchen Auszeit. Das Leben einfach mal passieren zu lassen. Es ist nur leider auch total beängstigend, einfach einmal stehen zu bleiben. Und genau das braucht man wohl, um wirklich aufzuräumen. Meine ständige Tendenz, Dinge zu organisieren, zu planen und zu strukturieren wird in diesen ersten Tagen auf eine harte Probe gestellt.


Eine Auszeit kann dich mit dir selbst konfrontieren – und das kann hart werden, wenn man gelernt hat, dass man immer weitermuss, weil das Auto sonst weg, der letzte Lift abgefahren oder die Schüsseln alle leer gefuttert sind.


Mein neues Vorhaben ist also: Liegen lernen, passieren lassen, mich in den Sand hocken und das Meer anglotzen.


Ich will lernen, Nichts von mir zu erwarten. Ich bin einfach hier und atme und der nicht vorhandene Lift fährt nicht weg.


Voll easy!

 

Ich wünsche Dir ein frohes neues Jahr und freue mich sehr auf den gemeinsamen Februar,



 

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